Tirana: Wilder Balkan, wildes Leben

Tirana ist ein Reisetipp für echte Osteuropa-Fans: Die albanische Hauptstadt mag nicht mit den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten aufwarten, bietet aber jede Menge Charme und wildes Leben!

Tirana wirkt erst einmal chaotisch: Es wuselt und wimmelt überall, die Straßenstruktur erschließt sich nicht sofort und wirklich schön ist Tirana auf den ersten Blick auch nicht. Dennoch bin froh, endlich diese lange geplante Reise verwirklicht zu haben, und möchte allen, die den Balkan und den ehemaligen Ostblock lieben, die albanischen Hauptstadt für einen City-Trip ans Herz legen. Lest hier, warum Tirana ein spannedes, abwechslungsreiches Reiseziel ist!

Zugegeben, Albaniens Hauptstadt bietet wenige echte Sehenswürdigkeiten. Alte Kirchen oder Moscheen finden sich kaum, nur wenige Gebäude stammen aus der Zeit von vor 1945. Das hat natürlich historische Gründe, die tatsächlich eher nach dem zweiten Weltkrieg zu finden sind. Das histiorische und vor allem das religiöse Erbe der Stadt wurde im Sozialismus stark beschädigt, der albanische Diktator Enver Hodscha sprach sogar stolz von der ersten vollständig atheistischen Stadt der Welt. Und auch das Erbe aus byzantinischer und osmanischer Zeit findet sich nur noch rudimentär.

So präsentiert sich Tirana heute als baulich recht junge und einheitliche Stadt, die jüngst einen Baumboom erlebt, der unzählige moderne Glashochhäuser mit sich bringt. Auch die Sakralbauten der Stadt sind oft noch jung und entstanden erst in den letzten zwanzig Jahren. So findet man heute durchaus eine moderne kartholische Kathedrale sowie eine der größten orthodoxen Kirchen des Balkans. Und auch Muezzine hört man wieder in der Stadt – wenn ihr Ruf nicht vom Straßenlärm überdeckt wird.

Man bereist Tirana also weniger für seine Prachtbauten, als vielmehr für den allgegenwärtigen kulturellen Mix, der das Flair der albanischen Hauptstadt bestimmt.

Prägend für das aktuelle Stadtbild Tiranas sind tatsächlich die überall wachsenden und um Höhe wetteifernden gläsernen Hochhäuser. Leider kommen viele von ihnen den wenigen vorhandenen Altbauten bedrohlich nah. Das vielleicht prägnanteste Beispiel schien mir direkt neben dem wunderschönen Uhrenturm von 1822 zu entstehen: Keine fünf Meter trennen den gerade wachsenden Glas-Beton-Kolloss vom osmanischen Wahrzeichen der Stadt. Man muss sich hier auf derartige bauliche Kontraste einlassen. Dafür wird man mit einer bunten, farbenfrohen Stadt belohnt.

Was wie ein Widerspruch klingt, ist einfach erklärt: Die ehemals grauen Bauten der Hodscha-Jahre wurden unter Bürgermeister Edi Rama an vielen Stellen bunt verziert oder mit großflächigen Streetart-Gemälden versehen (wer mehr lesen will: Folgt diesem Link). So sind etliche wunderschöne Murals entstanden, die häufig politische oder gesellschaftliche Missstände aufgreifen. Ihr werdet derartige Wandmalereien überall in der Stadt finden und das einst graue Tirana erhält dadurch einen modernen, subkulturellen Charme.

Neben diesen Graffitis ist es vor allem das Leben der Stadt, das den Charme Tiranas ausmacht und das ich irgendwo zwischen orientalischem Treiben und italienischem Flair einordnen würde: Überall finden sich kleinste Märkte und Stände, es pulsiert regelrecht. Plötzlich wird eine ganze Straße zum Markt. An vielen winzigen Straßenständen werden Mais oder Maronen geröstet, Bücher oder Antiquitäten ebenso verkauft wie Schuhe und Haushaltswaren. Es wirkt, als sei die ganze Stadt ein Basar!

Außerdem scheint hier – ganz italienisch – jeder schon morgens um 10 Uhr im Café zu sitzen. Das Leben findet draußen, auf den Straßen und in den Cafés statt. Man redet, kauft, verkauft, trinkt Kaffee, spielt Schach (wer dabei zusehen will: Der Lulishte Çajupi ist ein guter Anlaufpunkt für Freiluftschach).

Dabei hat mich vieles hier an die 2000er Jahre im Osten der EU erinnert: Es ist eine Welt, in der es noch Konduktoren und Schuhputzer gibt, viel zu viele schwarze Limousinen herumfahren, in der Verkehrspolizisten dafür sorgen, dass Kreuzungen überhaupt befahrbar bleiben, in der Bargeld mehr zählt als Kartenzahlung und in der sich Bars englisch klingenden Namen geben, um modern zu erscheinen. Vieles in Tirana wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen und ist gerade deshalb charmant.

Die zentralen Sehenswürdigkeiten Tiranas sind dabei schnell erfasst und mehrheitlich gut zu Fuß zu erschlendern:

Im Mittelpunkt der Stadt liegt der Skanderbeg-Platz, an dessen Rand sich die Ethem-Bey-Moschee, der zugehörige Uhrentum (unbedingt hinaufsteigen), die Nationaloper, das Historische Nationalmuseum mit einem gewaltigen sozialistischen Mosaik sowie auch einige Regierungsgebäude befinden.

In direkter Nachbarschaft liegt einer der zwei großen zu besichtigenden Bunker (Bunkart 2). Auch das Haus der Blätter, ein Museum für die Verbrechen des Inlandsgeheimdienstes Sigurimi, sowie die 2012 eröffnete orthodoxe Auferstehungskathedrale grenzen fast direkt an den Skanderbeg-Platz.

Im Norden und Süden des Platzes erstrecken sich zwei große Boulevards. In südlicher Richtung erreicht man hier in wenigen Minuten die bei meinem Besuch leider geschlossene Pyramide Tiranas. Sie war rsprünglich als Museum für den Diktator selbst geplant und erfährt zurzeit eine aufwendige Renovierung und Umwidmung.

In ca. 15 weiteren Fußminuten erreicht man den Mutter-Teresa-Platz mit der Technischen Universität und direkt dahinter dem sehr modernen Air-Albania-Stadion, das im Innenraum ein Café mit Blick auf das Spielfeld bietet. Auf dem Weg dazwischen passiert man den eher unspektakulären Präsidentenpalast und weitere Regierungsgebäude. Leicht abseits liegt die ehemalige Residenz Enver Hodschas. Das alles lässt sich problemlos an einem Tag besichtigen.

Aber nach Tirana reist man nicht für die großen Sehenswürdigkeiten! Es ist die Stadt selbst, die die Reise wertvoll macht! Wer aber dennoch noch etwas mehr sehen will, dem bieten sich z.B. diese spannenden Spots in Tirana, die ich allesamt empfehle:

Eine gute Viertelstunde östlich vom Zentrum stößt man auf den Pazari i Ri, den neuen Basar, der unter einer offenen Halle nicht nur lokale Händler vereint, sondern an seinen Rändern auch Gastronomie für jeden Geschmack bietet. Hier ist das westliche Hipster-Gefühl durchaus angekommen, dennoch bleiben die Preise sehr fair. Auch etliche Souvenirs – Mutter Teresa und Envar Hodschar dominieren augenscheinlich – und Antiquitäten bekommt man hier, darunter auch echte kleine Schätze aus der jüngeren Vergangenheit.

Natürlich bietet sich Tirana – umgeben von Bergen – auch für Ausflüge an. Tiranas Hausberg ist dabei der Dajti und er kann mit einer modernen Seilbahn erklommen werden. Die Fahrt dauert etwa 20 Minuten und kostet für Hin- und Rückweg ca. 10,- Euro. Der Ausblick ist wirklich gigantisch und reicht bis zur Adria. Oben am Berg gibt es kleinere Attraktionen wie eine Minigolfbahn, aber vor allem auch ein verlassenes Hotel aus der Zeit des Sozialismus, das vollig unabgesperrt erkundet werden kann. Ein lost place der besonderen Art hier in Tirana!

Für den Weg zur Seilbahn, deren Startpunkt sich am Stadtrand befindet und der keinen schönen Fußweg bietet, kann man den Bus ab dem Skanderbeg-Platz nehmen (Richtung Porcelani, dort die Endstation und weitere ca. 15 Minuten zu Fuß) oder direkt das Taxi, was ich empfehle (ca. 8-10 Euro).

Unweit vom Startpunkt der Seilbahn befindet sich ein weiterer Bunker, der im Ernstfall die politische Elite des Landes beherbergt hätte (Bunkart 1). Auch hier lohnen sich die etwa 4,- Euro Eintritt, die Fläche ist riesig und erstreckt sich weit in einen natürlichen Berg hinein.

Überhaupt ist Albanien das Land der Bunker, ca. 170.000 soll es geben, teilwese als absurde Ein-Mann-Bunker in Form von Mini-Pilzen. Man findet sie überall und das Museum bietet auch hier einen schönen Eindruck des paranoiden Wahnsinns der Hodscha-Jahre.

Allen echten Ostblock-Fans und Freunden des sozialistischen Brutalismus empfehle ich außerdem einen Abstecher zu „Mutter Albanien„. Diese 22 Meter hohe, weiße Frauenstatue in bester sozialistischer Tradition befindet sich auf einem Kriegsgräberfeld, das südöstlich an den großen Stadtpark angrenzt. Man kann den Weg hierhin gut mit einem Spaziergang durch den Park und seinem künstlichen See verbinden, nur das letzte Stück führt leider an einer Straße entlang.

Am westlichen unteren Ende des Parks befindet sich außerdem der kleine Zoo von Tirana, der seinem veralteten Ruf nicht mehr gerecht wird und jüngst eine tierfreundliche Renovierung erfahren hat.

Natürlich kann man in Albanien gut essen, die Küche kombiniert balkantypische Grillgerichte mit türkischen Einflüssen. Auch wenn viele Lokale einem pseudo-westlichen Stil frönen und sich englische Namen geben, findet man doch auch die kleinen, landestypischen Tavernen, man muss sie jedoch gezielt suchen.

Wer lokal essen will, dem empfehle ich die nordöstlich des Skanderbeg in einem Gewirr kleiner Gassen eher verstekt gelegene Vila Shijaku. Hier sitzt ihr in einem wunderschönen Innenhof, zu dem übrigens auch ein kleines Museum eines lokalen Künstlers gehört.

Für einen Wein oder einen Kaffee ist die nicht weit entfernte Vila Goldi ein weiteres lohnenswertes Ziel.

Als bekennender Craft-Beer-Fan bin ich ein wenig enttäuscht worden, kleine Brauereien scheinen es in Albanien noch schwer zu haben (positive Ausnahmen: Puka und Gjyshit).

Gleiches gilt auch für den lokalen Wein, was besonders schade ist, denn albanischer Wein hat durchaus Qualität. Hier bin ich jedoch im Vena am Rande des Szeneviertels Blloku sehr glücklich geworden. Und auch auf dem neuen Basar fand ich einen kleinen Stand mit lokalem, biologischem Wein.

Abends tobt das Leben in Tirana und natürlich bekommt ihr überall solide Drinks. Die Bar Hemingway hat mich mit ihren Cocktails überzeugt und sie liegt zudem sehr schön. Nicht weit entfernt findet ihr außerdem Miqtë e Muzikë, Typ Underground und mit einer wilden Mischung aus Livemusik und Garagen-Stil – spannnend!

Obgleich mittlerweile vermutlich Teil jedes Reiseführers, ist auch das Komiteti ein Muss. Hier gibt es inmitten ostalgischem Flair eine riesige Auswahl an albanischem Raki.

Insgesamt bildet heute vor allem der ehemals gesperrte Stadtteil Blloku – der Wohnblock der Parteielite – das Herz des Tiraner Nachtlebens. Hier reiht sich Lokal an Lokal.

In Sachen Infrastruktur bietet Tirana dagegen ein eher chaotisches Bild: Die Straßen und der Verkehr sind wild, gehupt wird ständig, Stau ist ebenfalls immer, fahren zählt mehr als bremsen. Bürgersteige fehlen oft oder enden abrupt. Viele Menschen nutzen Fahrrad oder Vespa, aber dazu gehört Mut.

Die Busse haben sich mir nicht erschlossen. Es gibt sie, aber Pläne fehlen. Angezeigt werden keine Linien, sondern die angesteuerten Stadtteile, die in Tirana oft nach alten Industrieanlagen benannt sind. Am besten sucht man die grobe Richtung, also den Stadtteil, den man ansteuert, wartet und hofft (allerdings überraschend oft erfolgreich). Eine Fahrt kostet 40 Lek, die im Bus beim Konduktor bezahlt werden. Kleingeld ist hilfreich. Eine Tram o. ä. gibt es gar nicht erst, so dass leider keine Alternative zu den Bussen besteht – außer dem Taxi, bei dem man aber vor der Fahrt den Preis verhandeln sollte. So oder so steht man lange im Stau.

Leider sind auch die Langstreckenbusse zwischen den albanischen Städten nicht leicht zu finden, ein zentraler Busbahnhof fehlt. Gleiches gilt auch für die albanische Eisenbahn.

Und dann ist da noch die Sprache. Ich habe mich selten so schwer getan, mir auch nur einfachste Worte zu merken. Vieles klingt italienisch im Rhythmus, aber alles bleibt unverständlich. Englisch ist aber so weit verbreitet, dass man sich zurecht findet. Überraschend häufig bin ich auf Menschen gestoßen, die sogar ein wenig Deutsch beherrschten. Die Sprachbarriere betrifft leider auch Speisekarten und Infotafeln aller Art: Vieles liegt nur auf Albanisch vor. Aber Google hilft ja heutzutage bei solchen Problemen.

Außerdem ist in Tirana oft noch Bargeld das einzig akzeptierte Zahlungsmittel. Man kann jedoch überall Geld wechseln, 1 Euro sind etwa 120 Lek. Auch um eine albanische SIM-Karte sollte man sich kümmern, um die hohen Roaminggebühren zu umgehen. Ich habe beides direkt am Flughafen erledigt.

Fürchten muss man sich in Tirana nach meiner Erfahrung nirgendwo. Natürlich gibt es auch dunkle, unübersichtliche Gassen. Insgesamt habe ich jedoch freundliche Menschen erlebt und im Zentrum Tiranas dominieren gepflegte, gut gekleidete Erscheinungen. Auch die Armut Albaniens ist heute bei weitem nicht mehr so schlimm wie ihr Ruf, wobei trotz allem vorhanden und auch im Zentrum sichtbar. Negativ überrascht hat mich allerdings der Umgang mit Müll: Alles scheint einfach irgendwie auf die Straße geworfen zu werden.

Dennoch möchte ich all denen, die wilde, urwuchsige Stadtreisen Richtung Osten mögen, Tirana unnbedingt ans Herz legen. Macht euch selbst ein Bild, ihr werdet diese Mischung aus wildem Balkan und wildem Leben genießen!

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